Einführung ins Thema
Dramatische Zuspitzung der Handlung. Letzter finaler Kampf. Der am Boden liegende Held rappelt sich mit letzter Kraft auf und starrt seinen Widersacher an. Er holt zu einem vernichtenden Schlag aus, fixiert sein Gegenüber und dann – dann passiert plötzlich alles ganz langsam. Der prasselnde Regen wird zu langsam fallenden Tropfen, die Hand des Helden ballt sich zu einer Faust, jeder einzelne Wassertropfen perlt platzend daran ab. Dem Zuschauer wird die Wichtigkeit des Moments klargemacht, indem die Zeit zerdehnt wird. Jedes Detail bleibt klar nachvollziehbar. Dann trifft die Faust des Helden den Kiefer des Bösewichts und die Geschwindigkeit normalisiert sich. Final geschlagen landet Agent Smith auf dem Asphalt und Neo starrt ihn ausdruckslos und siegessicher an.[1]
Diese filmische Technik wird als Zeitlupe oder Slow Motion bezeichnet. Je nach Genre oder Dramaturgie wird dies sparsamer oder inflationär eingesetzt. Eigentlich ist Slow-Motion eine ungewöhnliche Sache, denn sie entspringt nicht unserer Realität. In der Wirklichkeit lässt sich die Zeit nicht einfach raffen oder zerdehnen – Film macht dies allerdings möglich.
Die Einsatzmöglichkeiten für Slow Motion sind grenzenlos, ebenso wie die Effekte, die es begleiten. Dieser Essay wird sich mit der Entstehung, der Verwendung und dem eventuellen Wirklichkeitsbezug von Slow Motion befassen.
Methodisch
Da es sich bei Slow Motion um eine Filmtechnik handelt, ist diese logischerweise noch nicht ganz so alt. Wir werden die Entstehung und Geschichte, ebenso wie die Machart und Verwendung dieser Technik nachvollziehen. Wir beleuchten einige Einsatzmöglichkeiten und illustrieren diese mit Beispielen. Schlussendlich machen wir einen Exkurs in die Wahrnehmungs-Psychologie, um zu diskutieren, ob es ein ähnliches Phänomen auch in unserem Gehirn gibt.
* * *
Analyse
Definition: Was ist Slow Motion?
Auf technischer Ebene handelt es ich bei Slow Motion eigentlich nicht um eine Verlangsamung, sondern lediglich um die Illusion davon. Eine Standardrate für das Abspielen von Film sind 24 Bilder pro Sekunde. Dies genügt offensichtlich, um die Illusion von Bewegung darzustellen.[2] Welches Ereignis dabei dargestellt wird hat keinen Einfluss auf die Darstellung.
Im allerersten Einzelbildfilm des galoppierenden Pferdes von Lee Standford (1878) erschien das Pferd im vollen Galopp, ein einzelnes Bild jedoch als Photo.[3] Schon damals fiel auf, dass ein filmisches Pferd in Zeitlupe galoppieren konnte, ein echtes jedoch nicht. Mithilfe von Slow Motion wurde es plötzlich möglich, Ereignisse zu sehen, die vorher unsichtbar (da zu schnell) waren.
Man erreicht diesen Effekt, indem man mit wesentlich höherer Framerate aufnimmt und dann mit Standardrate abspielt. Dadurch verlängert sich die Zeit, die der Film bzw. Clip dauert. Filmen wir etwa ein Ereignis, das 1 Sekunde dauert (wie etwa das Ausblasen einer Kerze) mit 240fps und spielen mit Standardrate ab, so erhalten wir einen 240 fps / 24 frames = 10 Sekunden langen Clip. Das Ereignis erscheint uns stark verlangsamt und wir können es genauer studieren.
In den Worten Slow Motion bzw. Zeitlupe stecken die Konzepte Zeit und Bewegung drin. Beides bezieht sich auf die profilmischen Ereignisse am Drehort. Zeit meint „beim Dreh verstrichene Zeit“ und Bewegung meint „während der Drehzeit entstandene Bewegung.“[4]
Echte Slow Motion und Interpolation
Moderne Schnittprogramme erlauben es, aus jedem Clip eine Slow Motion zu erstellen. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied in der Beschaffenheit des Rohmaterials. Wurde ein Ereignis mit einer Slow Motion Kamera aufgenommen, so enthält die Filmdatei viel mehr Einzelbilder als ein normaler Film Clip.
Um nun aus einem nicht-zerdehnten Clip eine verlangsamte Bewegung zu erstellen, bedient sich das Schnittprogramm eines Algorithmus (sog. Motion Compensated Frame Interpolation, MCFI)[5], welches Frames zwischen den Frames aus den gegebenen Informationen erstellt und neu generiert. Diese stellen häufig verwaschene, bewegungsunscharfe Zwischenbilder da und sind damit eher die Illusion der Illusion von Slow Motion.[6]
Bullet-Time | Trinity’s Début in THE MATRIX
Man kann schlecht über den Einsatz von Slow Motion schreiben, ohne The Matrix (1999) zu erwähnen. Besondere Leistungen erzielte der Film dabei durch seinen geschickten Mix aus digitalen (in Postproduction) Werkzeugen und realen (am Drehort anwesenden) Techniken. Der Effekt wurde vom Matrix-Team als Bullet-Time betitelt.[7]
In den ersten Minuten des Films begegnet uns die Hackerin Trinity, wie sie von Polizisten beinahe überwältigt wird. Als sie während eines Faustkampfs in die Enge gedrängt wird, verschafft sie sich Raum, springt ab und setzt einen gezielten Sprungkick auf die Brust des überraschten Polizisten. Diese Sequenz hält die Bewegung der Figur kurz an, während die Kamera 270° um sie herumfährt, bevor der Tritt trifft. Eine absolute Neuheit in der Filmwelt. Moderne Kinobesucher munkeln, dass der Polizist nur deshalb starr vor Schock war, weil die Slow Motion so atemberaubend aussieht.
Geschichtliche Entwicklung von Slow-Motion
Um die Entwicklung von Slow Motion nachvollziehen zu können müssen wir uns kurz die Entwicklungsgeschichte der Filmkamera an sich anschauen. Die erste Photographie mit Belichtung auf einen Film erstellte 1826 der Franzose Joseph Nicéphore Niépce.[8] In 1878 gelang Lee Standford und Eadweard Muybridge die Aufnahme des galoppierenden Pferdes mithilfe von hintereinander ablaufenden Einzelbildern.[9] Unsere heutige Framerate von 24fps ist ein mechanisches Detail und erst nach einigen Experimenten standardisiert worden. Dazu gehört auch, dass die Aufnahmegeschwindigkeit den gleichen 24 Einzelbildern pro Sekunde entsprechen muss. Vor der Digitalisierung der Cinematographie waren dies auch tatsächliche Einzelbilder auf dem Celluloid-Streifen.
Kameras wurden von Hand bedient und an einer Kurbel wurde der Film auf einer Rolle weitergedreht (daher das Wort Dreharbeiten). Natürlich experimentierten frühe Filmemacher wie Pudovin und Eisenstein mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Abspielraten.[10] Diese Varianz in Produktionsgeschwindigkeit (wörtlich genommen) und Abspiel-Geschwindigkeit erzeugte viel Spielraum für experimentelles Filme-Machen. [11]
Während der Stummfilm-Ära
Die Zeit, in der die Bilder laufen lernten war geprägt von einer Vielzahl vorsichtiger Vorstöße in neues Terrain; schließlich war das Medium neu und die Möglichkeiten noch nicht ausgelotet. Währen der Zeit des Ersten Weltkrieges erlebte die Filmlandschaft jedoch einen ersten Umbruch vom theatralischen und szenischen Kino hin zum narrativen Film.[12] Das bedeutet, dass die Effekte des Films plötzlich nicht zur zum Erzeugen von Staunen genutzt wurden, sondern eine narrative Funktion aufweisen sollten.
Gerade die Filme von Buster Keaton spielten auf narrativer Ebene mit der Veränderung von Zeit. In der Wirklichkeit (wie etwa im Theater) kann man die Zeit nicht rückwärts oder langsamer laufen lassen – im Film schon. Keatons Filme bedienten sich, wahrscheinlich der Komik halber, jedoch eher des Zeitraffers als der Slow Motion.[13] Die gleiche Magie veränderter Zeit entfachte auch der Kinotoscope von Thomas Edison, wohl auch um Filme etwas länger oder beeindruckender darzustellen.[14]
Während der Avantgarde
Die filmische Avantgarde verzeichnete ein ebenso schillerndes Ausprobieren, wie ihr malerisches Pendent. Filmemacher wie Jean Epstein und Germaine Dulac (in Frankreich) und ihre Kollegen Vsevolod Pudovkin, Dziga Vertov und Sergei Eisenstein (in der Sowjetunion) loteten die Möglichkeiten cineastischer Effekte aus, hauptsächlich in Bezug auf Montage, Schnitt und Parallelismus von Handlungen. Hinzu kamen neuartige Einsätze von Film-Effekten und deren narrativer und explorativer Nutzung.[15]
Gleichzeitig gehörten zur Avantgarde auch andere künstlerische Strömungen, die sich ebenfalls im Film probierten. So erprobte sich der Maler Salvator Dalí zusammen mit Luis Buñuel in Un Chien Andalou in den Filmeffekten der Zeitlupe. Die Handlung des Films erzählt die Geschichte eines Mannes, der seinen zeitreisenden Doppelgänger trifft. Der Doppelgänger ist durch die verschobene Zeit in Zeitlupe gefilmt, während sich der echte Mann in Normalzeit bewegt.[16]
Hollywood Tonfilm bis 1960er
Man sagt, dass sich eine gute Illusion selbst unsichtbar macht und dass sie erst dann gut funktioniert, wenn man sie nicht als Illusion erkennt.[17] Mit dieser Prämisse veränderte sich der Tonfilm in Hollywood bis in die 1960er hinein zu etwas, dass „realistisch“ sein sollte. Dabei waren natürlich Effekte wie geraffte oder verlangsamte Zeit nicht wünschenswert, da sie die Wirklichkeit nicht abbildeten. [18]
Ausnahmen dieses Realismus-Anspruches machten Musicals und Komödien, sowie Filme die Traum- oder Musiksequenzen beinhalteten.[19] Des Weiteren bediente sich Alfred Hitchcock in der Traum-Sequenz von Spellbound (1945) des Slow Motion Effekts, wohl auch weil diese unter der Federführung von Salvador Dalí gestaltet worden war.[20] Hitchcocks Film-Handlungen hatten häufig die Herausforderung, den britischen Behörden genehm zu sein. Diese Restriktionen auf das Zeigbare hatte Sekundäreinfluss auf die Art der verwendeten Effekte. So kam es erst gegen Ende der 1960er mit dem breiten Einsatz von Farbfilm und der Lockerung der Inhaltseinschränkungen zu neuen Film-Narrativen. Zeitgleich nahm die Verwendung filmischer Effekte, darunter auch Slow Motion, enorm zu. [21]
Hollywood und europäisches Autorenkino
Die Zeit zwischen Mitte der 1960er und 1990er Jahre sah eine Veränderung hin zum sogenannten New American Cinema. Dieses bot, aufgrund gelockerter Inhaltseinschränkungen mehr Spielraum für Szenen mit Gewalt, Sex und Brutalität. Eine Entwicklung, die rasant verlief, uns aber heute weniger auffällt, da all diese Narrative für uns gewöhnlicher geworden sind.[22] Gerade diese neuartigen Leinwand-Narrative nutzen filmische Effekte, wie auch Slow Motion, um klimaktische Handlungen zu unterstreichen.
In Russland, dem Geburtsort der Filmemacher Pudovin, Vertov und Eisenstein waren solche Filme erst nach dem Tod Josef Stalins, 1953, möglich. Bis dahin wurde das Medium Film in der UdSSR oftmals als erweitertes Propaganda-Mittel für politische und gesellschaftliche Ideologie genutzt.[23]
Gegenwart
Wir sprechen von Filmgeschichte der Gegenwart ab Mitte der 1980er Jahre. Dies hat maßgeblich mit dem Einsatz von Computergrafik zutun, was allerdings nicht Teil dieses Essays ist. Filme wie The Matrix (1999) und Mission Impossible (1996) bauten Teil der actiongeladenen Handlung auf dem geschickten Einfluss von Slow Motion und anderen Effekten auf. Das gleiche gilt für James Bond (ab 1995 mit Pierce Brosnan), Indiana Jones (ab 1981) und Top Gun (1986). Wenn Tom Cruise nicht in Zeitlupe von einer Explosion weggeht, dann ordnen wir es intuitiv nicht dem Action-Genre zu. Gerade dieser Fokus auf Handlung mit Action-Elementen (Explosionen, Gewalt, Stunts, etc.) trug zur fast inflationären Verwendung von Slow Motion bei. [24]
Pragmatisch betrachtet ergibt der Gebrauch von Slow Motion viel Sinn. Die 1990er sahen auch einen schnelleren Rhythmus von Schnitt und Montage, weshalb Slow Motion erheblich hilft, die Orientierung zu behalten.[25] Die schnellen Sequenzen von Matrix und Co. hätten ihren cineastischen Bann nicht gehabt, wenn es nicht Slow Motion (und Bullet-Time) gegeben hätte.
Die 1990er und 2000er erlaubten auch vermehrt die Vermischung von TV und Kino, was sich in Zeiten von Streaming-Diensten noch viel deutlicher zeigt. Dies hatte zur Folge, dass TV-Produktionen immer mehr „Kino Standards“ entsprechen. Zwar gab es den Wechsel von TV-Studios zum Kino schon früher, so begannen sowohl Ridley Scott als auch Steven Spielberg ihre Karrieren in der TV-Produktion, doch die Heimkino-Ära ist ein Kind des einundzwanzigsten Jahrhunderts.[26]
Filmophane Komponenten von Slow Motion
Bei aller geschichtlichen Herkunft und allem theoretischen Erklären, geht es doch bei Filmen maßgeblich um die erzählte Geschichte. Das Narrativ und die euskopische Darbietung der Erzählung sollte im Vordergrund stehen. Slow Motion bekommt dadurch eine filmophane Komponente, insofern als dass es für einen Zweck verwendet wird, der über den bloßen Effekt hinausgeht.[27]
Wenn man jemanden bittet, eine Aktion-Szene aus Filmen in Slow Motion wiederzugeben, dann kommt häufig folgender Effekt zustande: Die Person beginnt sich langsam zu bewegen und verstellt/verzerrt die Stimme zu einer quälend langsamen Version gesprochener Sprache. Die ersten Animationsfilme von Pixar und Disney spielen oft komödiantisch mit diesem Effekt. Der Einsatz von Slow Motion sieht jedoch häufig anders aus.
Die ikonische Funktion von Slow Motion und Kommentarstimme
Es gibt Momente in Filmen, wo die Handlung langsamer dargestellt wird, um einen Punkt zu unterstreichen. Dies geschah etwa in den Gewaltszenen von Clockwork Orange (1971) und Fight Club (1999). Hier spielte sich das Geschehen in Slow Motion ab, aber die Erzählerstimme blieb in normaler Redegeschwindigkeit. Obwohl dieser Effekt eigentlich eine Diskrepanz auslösen müsste, erzeugt es eine interessante Immersion ins Geschehen.[28]
Geräusche
Anders als Stimmen, lassen sich Geräusche auch zerdehnt und langsam darstellen, jedoch verlieren sie dann manchmal ihre Kraft. Ein zerspringendes Glas platzt eben in einem Moment und nicht über einen längeren Zeitraum. Um das aufzulösen, nutzt man manchmal eine künstliche Palette von Sound-Effekten (sogenannte Foley-Sounds), um das Slow Motion Geschehen neu zu untermalen. Geräusche klingen dann näher, schärfer, oder more crisp. Man denke etwa an die Soundeffekte zu frierendem Eis in Day After Tomorrow (2004). Als grundsätzliche Unterscheidung halten wir fest, dass zerdehnte Geräusche ein bloß profilmisches Artefakt sind und nachträglich klarere Geräusche oft ein euskopisches und filmophanes Werkzeug sind, um das Narrativ zu unterstützen.[29]
Verflechtung mit Musik
Für Musik wiederum gelten Regeln von Rhythmus und Zweckmäßigkeit. Gute Filmmusik untermalt die Szenen nach der Taktrate von Schnitt, Handlung und Action. Das gilt eben auch für Slow Motion. Stellt eine Slow Motion Szene einen Handlungshöhepunkt dar, so kann die Musik verlangsamen, um den Moment zu unterstreichen.[30] Buster Keatons Filme, die häufig auch Zeitraffer nutzen, nahmen diese Kombination von Musikgeschwindigkeit und Filmgeschwindigkeit als komödiantisches Element auf. Sobald die Musik nicht zum gesehenen Geschehen passt, empfinden wir es als unwirklich. Es ist im Sinne des Realismus der frühen Filmgeschichte eine Kombination von Werkzeugen, die unsichtbar wird, sobald sie gut funktioniert.[31]
Kamerabewegungen
In den vorangegangenen Abschnitten haben wir uns Slow Motion als eine verlangsamte Bewegung angeschaut. Jedoch gibt es einen weiteren Effekt verlangsamter Bewegung, der einen euskopischen Effekt haben kann: Die Kamerafahrt. Wenn sich eine Kamera langsam durch eine Handlung bewegt, erzeugt das manchmal einen Slow Motion ähnlichen Spannungsbogen. Zwar ist nicht jede langsame Kamerafahrt direkt ein Slow Motion Effekt, doch der Einsatz als solcher ist durchaus möglich. [32]
Einsatzmöglichkeiten von Slow-Motion
Slow Motion erweist sich als vielseitiges Werkzeug, wenn es um die Kreation filmischer Bilder und videografischer Kunstwerke geht. Allgemeiner betrachtet halten wir fest, dass sich Slow Motion maßgeblich entweder narrativ, euskopisch oder spektatoriell einsetzten lässt. Die Herangehensweise der 1920 Jahr, um bloßes Erstaunen über die Kameratechnik auszulösen können wir außen vorlassen, diese Wirkung ist in Zeiten von CGI und IMAX-Kino passé.
Narrativ
Vordergründig werden Filme gemacht, um eine Geschichte zu erzählen. Alle filmischen Effekte sind daher auch ein Mittel zum Zweck. Slow Motion kann dabei ebenso narrativ eingesetzt werden, wie Weichzeichner, Überblendung, Färbung, etc. Aufgrund der Besonderheit von Zeit-Manipulation nehmen Zeitraffer und Slow Motion eine besondere Rolle ein.
Viele Filme, darunter häufig Actionfilme und Dramen, nutzen Slow Motion um Spannung (suspense) zu erzeugen. Dies ist ein Phänomen quer durch die Filmgeschichte von Kubricks Space Odessey (1968) bis hin zu Matrix Revolutions (2003).[33] Auf praktischer Ebene hilft es, die Gewichtung eines besonderen Moments herauszustellen. Das gleiche gilt allerdings auch für emotionale Szenen, wie etwa Obi-Wans finales Duell in Star Wars (1977), oder der Tod Albus Dumbledors in Harry Potter and the Deathly Hallows (Part 1, 2010)[34]. Die Zeit, die der Regisseur für den Tod eines Helden verstreichen lässt, ist oft proportional zu dessen Status in der Geschichte. Mary Scott Albert beschreibt den heutigen Einsatz von Slow Motion so:
Most action pictures even now limit their use of slow motion to the ultimate, or penultimate moment of suspense or violence, as the climaxing shot of a parallel edit montage, where suspense build between two alternating elements. When the elements finally come together, the moment is prolonged by the use of slow motion, or, in a variation of this method the moment preceding the union of the elements is delayed even further […], thus extend the suspense.[35]
Euskopisch
Filmische Universen präsentieren uns stets eine intentionale Welt. Die Art und Weise wie Schnitt, Kameraführung und Bildausschnitt gewählt sind ist kein Zufall, sondern eine beabsichtigte Sache. Das bedeutet, dass die leinwandlichen Inhalte auch für eine absichtliche Ästhetik geschaffen sind, ebenso wie die verwendeten Effekte. Slow Motion wird dabei eingesetzt, um einen euskopischen Zweck zu verfolgen. Einfach gesprochen: Es sieht ziemlich schick aus.
Verknüpft man Slow Motion in der Schnittmontage geschickt mit anderen Shots (mit und ohne Slow Motion) entsteht ein dynamisches Wechselspiel aus Rhythmus, Bewegung und Akzentuierung. Die einzelnen filmischen Bilder erhalten eine Hierarchie von Bedeutung, oftmals mit Musik untermalt. [36] May Scott Albert schreibt dazu: „When we watch slow-motion sequences, our muscles tense and we hold our breath, not only as a result of the action portrayed, but because of the structure of the shots – their order, duration, and rhythm.”[37] Somit können wir davon ausgehen, dass der Einsatz von Slow Motion innerhalb einer Szene völlig beabsichtigt und zweckgebunden ist. Abgesehen davon, dass es interessant aussieht, ist es nicht einfach so da.
Spektatoriell und Logisch
Zu guter Letzt doch noch ein Wort zu Pragmatik. Bruce Lee erkannte in seinen Filmen schnell, dass die komplexen Kampfkunst Bewegungen für ungeübte Kinobesucher nicht leicht zu sehen waren. Er verlangsamte daraufhin die Abspielgeschwindigkeit bestimmter Sequenzen und machte sie dadurch logischer. Die Idee eines verlängerten Klimax-Moments (siehe Mary Scott Albert Zitat, Seite 9) ist kombiniert mit einer pragmatischen Komponente von Nachvollziehbarkeit.[38]
Abgrenzung von guter und schlechter Verwendung des Slow Motion Effekts
Der gute und schlechte Einsatz von Slow Motion lässt sich prägnant anhand eines Essays von Pudovin zeigen:
„All the directors who have exploited retardation of movement have … failed to incorporate the retarded movement in the editing construction as a whole – in the general rhythmical flow of the film. [The proper use is] the incorporation of various degrees of retarded speed of movement integrally in the construction of a given editing phrase. A short length shot in ‘slow motion’ can be placed between two longer normal-speeded shots, concentrating the attention of the spectator at the desired point for a moment. ‘Slow motion’ in editing is not a distortion of an actual process. It is a portrayal more profound and precise, a conscious guidance of the attention of the spectator.[39]
Slow Motion soll also eine Zielführung der Aufmerksamkeit herbeiführen, anstatt bloß vorzuführen, welche geniale Kameratechnik verwendet wird. Damit erhält es eine narrative Gewichtung und die technische Umsetzung macht sich beim Gelingen des Effekts praktisch unsichtbar.
Bezug zur Wirklichkeit
Bei Slow Motion handelt es sich um einen Effekt, der gewisse Wirkungen im Kontext des Films hervorrufen soll. Bei der 1960er-Debatte um Realismus stellt sich allerdings die Frage nach der Wirklichkeitstreue von Slow Motion. Zwar können wir keine Bullet-Time erleben und auch nicht in Zeitlupe von fahrenden Autos abspringen, doch einen ähnlichen Effekt gibt es doch.
Manchmal ergeben sich Situationen wie die folgende: Man steht in der eigenen Küche und hat sich gerade einen Tee aufgesetzt. Gedankenverloren holt man eine Tasse aus dem Schrank und platziert diese ein klein wenig zu nah an der Kante der Arbeitsplatte. Der Wasserkessel pfeift plötzlich und während man sich herumdreht, um diesem vom Herd zu nehmen, streift der eigene Ellenbogen die Tasse und sie fällt. Der Moment reicht oftmals gerade noch so um „Ach Mist!“ zu denken, bevor das Gefäß auf den Fliesen zerspringt, jedoch schauen wir der Tasse häufig, wie in Zeitlupe zu, während sie in ihr unausweichliches Ende stürzt. Warum?
Der gleiche Effekt geschieht im Kampfsport-Training. Während Sparrings-Kämpfen kommt es manchmal zu Situationen, die gerade noch ausreichen um „Oh Shit!“ zu denken, bevor ein Treffer landet. Meist schaut man dem Fuß oder der Faust des Gegners dann kurz wie in Zeitlupe zu. Woher kommt dieser Effekt? Die Antwort liegt in der kognitiven Psychologie:
Perzeption, Planung, Bewegung
Die Verarbeitung von Information und die daraus resultierende Handlungsaufforderung geschieht in zwei getrennten Bereichen des Gehirns. Das Aufnehmen von Eindrücken (Perzeption) ist dabei wesentlich schneller als die Planung von eventuell angemessenen Reaktionen. Diese Diskrepanz liegt gewissermaßen auf der Hand, denn ein Sinneseindruck ist relativ eindeutig, die Frage nach der richtigen Reaktion ist jedoch eine Auswahl. Im Kampfkunstbereich ist dies die Frage nach Ducken, Konterattacke, Zurückweichen, etc.
Nach der erfolgreichen Planung einer Reaktion folgt erst die Ausführung in Form von Bewegung und da stoßen wir auf eine fast technische Einschränkung des Nervensystems. Wir sprechen hier über Reaktionen im Millisekunden-Bereich, die den Eindruck von Slow Motion suggerieren. Sinneseindrücke über die Augen haben einen kürzeren Weg ins Gehirn als die ausführende Befehlskette, die zu einer komplexen körperlichen Bewegung benötigt wird. Anders gesagt, reizt die Abfolge von Perzeption, Planung und Bewegung die Untergrenze der Signalverarbeitungsgeschwindigkeit aus.[40]
Was bleibt ist das Gefühl von gelähmt und starr sein, während eine Sache passiert. Dies erzeugt den Eindruck, das Geschehen wie in Slow Motion zu erleben. Was den körperlichen Sinneseindruck vom filmophanen Effekt trennt ist die Aufnahme und Wiedergabegeschwindigkeit. Die Filmkamera nimmt bewusst mit mehr Frames auf und spielt diese in Normalgeschwindigkeit ab. Das Gehirn nimmt in normaler Framerate auf und versucht verzweifelt, schneller abzuspielen. Die Perzeption von wahrgenommener Slow Motion und die filmophan erzeugte Slow Motion haben also keinen kausalen Zusammenhang.
Fazit
Slow Motion war seit Beginn der Filmgeschichte ein interessantes Mittel, um den Effekt der bewegten Bilder zu unterstreichen. Im Laufe der Filmgeschichte entwickelte es sich von einem Staunen-erzeugenden Show-Element zu einem narrativen Mittel, das die filmophane Darbietung progressiv unterstützen kann. Ausschlaggebend war die analoge Technik des führen zwanzigsten Jahrhundert, welche dann Jahre später in die digitale Sphäre übertragen wurde. Erst so entwickelten sich Schnittmontagen mit dynamischem Wechsel von Slow Motion und realer Zeit.
Obwohl der reizvolle Vergleich nahe liegt, besteht kein kausaler Zusammenhang zwischen menschlicher Wahrnehmung und der Entstehung von Slow Motion. Vielmehr beobachten wir einen Effekt der perzeptuellen Wahrnehmung, der dem Erleben von Slow Motion gleicht, nicht jedoch dem Aussehen.
Abschließend ist zu sagen, dass Slow Motion zu den stilistischen Mitteln gehört, die völlig dem Film überlassen sind und seinen Charakter als interessantes und vielseitiges Medium extrem bereichert. Eine spannende Entwicklung führte so zu narrativen, spektatoriellen oder einfach technisch interessanten Neuerungen und Betrachtungsweisen.
Quellenverzeichnis
[THEORY] | Albert, Mary Scott. Towards a theory of slow motion, Essay, 1996
[GESCH] | Becker, Andreas. Perspektiven Einer Anderen Natur : Zur Geschichte Und Theorie Der Filmischen Zeitraffung Und Zeitdehnung. Bielefeld: transcript Verlag, 2004
[ZEITLUPE] | Brockmann, Till. Die Zeitlupe: Anatomie Eines Filmischen Stilmittels. Marburg: Schüren, 2014
[SOURIAU-1951] | Souriau, Etienne, Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie, Essay, 1951
Harry Ransom Center UTEXAS, im Webarchive, The first Photograph, web.archive.org/web/
20091227215421/http://www.hrc.utexas.edu/exhibitions/permanent/wfp/
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Library of Congress, The Horse in Motion, www.loc.gov/item/91483062/
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Eysenck, Michael W., and Mark T. Keane. Cognitive Psychology: A Student’s Handbook. Eighth edition. London: Psychology Press, Taylor & Francis Group, 2020. Print. S.55f.
V. Pudovin, Film Technique and Film Acting (Memorial Edition), London, Vision Press, 1974, S. 181
Videvo, How to Use Slow Motion in Adobe Premiere Pro, www.videvo.net/blog/how-to-use-slow-motion-in-adobe-premiere-pro/ (aufgerufen am 01.02.23, 21:43 Uhr)
YouTube: Matrix Revolutions: Final Fight (Neo vs. Smith), www.youtube.com/watch?v=GzQBzR7TgQ4 (aufgerufen 01.02.24, 18:10 Uhr)
YouTube,THE MATRIX (1999) | Making of Bullet Time Scenes, www.youtube.com/watch?v=jYk0WHcmrYo (aufgerufen 01.02.24, 22:07 Uhr).
[1] YouTube: Matrix Revolutions: Final Fight (Neo vs. Smith), www.youtube.com/watch?v=GzQBzR7TgQ4 (aufgerufen 01.02.24, 18:10 Uhr)
[2] [THEORY] vgl. S. 8
[3] [THEORY] vgl. S. 7
[4] [ZEITLUPE] vgl. S. 12
[5] [ZEITLUPE] vgl. S. 155 und 63ff.
[6] Videvo, How to Use Slow Motion in Adobe Premiere Pro, www.videvo.net/blog/how-to-use-slow-motion-in-adobe-premiere-pro/ (aufgerufen am 01.02.23, 21:43 Uhr)
[7] YouTube,THE MATRIX (1999) | Making of Bullet Time Scenes, www.youtube.com/watch?v=jYk0WHcmrYo (aufgerufen 01.02.24, 22:07 Uhr). Die Abbildungen sind Stills aus dem Video.
[8] Harry Ransom Center UTEXAS, im Webarchive, The first Photograph, web.archive.org/web/
20091227215421/http://www.hrc.utexas.edu/exhibitions/permanent/wfp/ (aufgerufen 04.02.24, 19:31 Uhr)
[9] Library of Congress, The Horse in Motion, www.loc.gov/item/91483062/ (aufgerufen 04.02.24 19:33 Uhr)
[10] [THEORY] vgl. S. 8f.
[11] [ZEITLUPE] vgl. S. 118
[12] [ZEITLUPE] vgl. S. 118ff.
[13] [ZETILUPE] vgl. S. 122f.
[14] [THEORY] vgl. S. 20
[15] [ZEITLUPE] vgl. S.129
[16] [ZEITLUPE] vgl. S.130f
[17] [THEORY] vgl. S.20
[18] [ZEITLUPE] vgl. S.138f.
[19] [ZEITLUPE] vgl. 139f.
[20] [ZEITLUPE] vgl. 140f.
[21] [ZEITLUPE] vgl. S. 141f.
[22] [ZEITLUPE] vgl. S. 143ff.
[23] [ZEITLUPE] vgl. S. 144.
[24] [ZEITLUPE] vgl. S. 151f.
[25] [ZEITLUPE] vgl. S. 153
[26] [ZEITLUPE] vgl. S. 154ff.
[27] [SOURIAU-1951] vgl. S. 150
[28] [ZEITLUPE] vgl. S. 194
[29] [ZEITLUPE] vgl. S.200
[30] [THEORY] vgl. S.16ff
[31] [ZEITLUPE] vgl. S.212 und S. 215
[32] [ZEITLUPE] vgl. S. 218f.
[33] [THEORY] vgl. S. 24f.
[34] [THEORY] vgl. S. 18f.
[35] [THEORY] S. 23f.
[36] [THEORY] vgl. S.18f.
[37] [THEORY] S. 20
[38] [THEORY] vgl. S.24
[39] V.I. Pudovin, Film Technique and Film Acting (Memorial Edition), London, Vision Press, 1974, S. 181
[40] Eysenck, Michael W., and Mark T. Keane. Cognitive Psychology: A Student’s Handbook. Eighth edition. London: Psychology Press, Taylor & Francis Group, 2020. Print. S.55f.