Diese Hausarbeit war eine akademische Prüfungsleistung im Seminar „Medien der Erinnerung im Werk Theodor Storms“ und behandelt speziell das Werk „Der Schimmelreiter“.
Einleitung
Einleitung ins Thema
In der folgenden Arbeit wird es um die Rolle abergläubischer Vorstellungen und Verhaltensweisen in der Novelle „Der Schimmelreiter” von Theodor Strom gehen. Glaubensvorstellungen, welche im Spannungsverhältnis mit Ideen und Idealen der Aufklärung und auch dem Christentum stehen hat der Autor Theodor Storm in seiner Novelle literarisch zum Ausdruck gebracht. Da Storm zwischen unserer Gegenwart und der Aufklärung lebte, gab ihm dies einen Blick auf zwei Weltanschauungen, welchen er in seine Texte einfließen ließ, so nicht nur in „Der Schimmelreiter”, sondern beispielsweise auch in „Die Regentrude”, „Aquis submersus” und vielen anderen. Insgesamt weisen 37 der 47 seiner Novellen unterschiedliche Anteile von christlichen oder abergläubischen Elemente auf.1 Auffällig ist die hohe Korrektheit mit der der Autor die oft mündlich tradierten abergläubischen Vorstellungen hat einfließen lassen. Inwieweit die Biografie des Autors zum Text steht, wird nicht Teil der Arbeit sein. Ob Theodor Storm selbst Gläubiger der von ihm beschriebenen abergläubischen Vorstellungen war, oder inwieweit er dies im Konflikt mit seinem christlichen Glauben sah, bleibt teilweise Sache der Spekulation.2Tatsache ist jedoch, dass Storm die Novelle „Der Schimmelreiter” bewusst als Kombination aus christlichen, abergläubischen und auch schauerlichen Elementen gestaltet hat.
Fragestellung
Wie werden abergläubische Elemente in der Novelle der Schimmelreiter literarisch vergegenwärtigt und welche Rolle nehmen sie damit ein? Dieser Frage möchte diese Arbeit nachgehen und im folgenden sowohl Begriffe, als auch Textstellen anführen, welche für die Beantwortung maßgeblich sind. Anders als in vielen Novellen Storms wird der Aberglaube im „Schimmelreiter” scheinbar als verstärkendes Element der Isolation der Hauptfigur Hauke Haien eingesetzt und auch als Mittel der Vorausdeutung genutzt. Gleichzeitig wird der „Schimmelreiter” zur Schauerliteratur gezählt, was teilweise auch am Einsatz von Elementen des Aberglaubens liegen kann. Eingangs möchte ich sowohl die Begriffe „Aberglauben” als auch „Schauerliteratur” definieren. „Der Schimmelreiter” ist zwar der Gattung Novelle zuzuordnen, jedoch gilt er als Schauergeschichte. Des Weiteren sei kurz auf den Zusammenhang des Handlungsortes Nordfriesland und dem Auftreten von abergläubischen Vorstellungen eingegangen um die Novelle in Storms Anspruch des Realismus einzuordnen.
Biografische Daten Theodor Storms
Hans Theodor Woldsen Storm wurde am 14.09.1817 in Husum im heutigen Schleswig-Holstein geboren.3 Zur seinen Lebzeiten war das Gebiet erst unter dänischer Herrschaft, später unter preußischer. Storm war beruflich Jurist; er wurde zum Landvogt/Amtsrichter berufen, arbeitete in Husum, Berlin und Heiligenstadt. Darüber hinaus schrieb er Novellen, Gedichte, Prosa und Kunstmärchen. Er ist als Vertreter des Realismus anzusehen. 4Zeit seines Lebens schreibt er 47 Novellen, trägt zusammen mit Theodor und Tycho Mommsen eine Sammlung nordfriesischer und norddeutscher Sagen und Volkslieder zusammen5, engagiert sich gegen die preußische Herrschaft, der damals noch dänischen Herzogtümern Schleswig und Holstein.6 1884 lehnte er den Auftrag ab, eine Hymne auf den 70. Geburtstag des preußischen Reichskanzlers Bismarck zu schreiben. Seinen Alterssitz fand er im schleswig-holsteinischen Hanerau-Hademarschen, wo er am 04.07.1888 an Magenkrebs verstarb;7 etwa fünf Monate nach Fertigstellung seiner letzten Novelle „Der Schimmelreiter”. Storm zeichnet sich durch eine große Heimatverbundenheit aus, ebenso durch ein immenses Detailwissen über die Gegenden, die er beschreibt. Viele seiner Novellen spielen in der Region Nordfriesland, was dazu geführt hat, dass er in der Region noch immer als der Vorzeigedichter schlechthin gilt. Zahlreiche Schulen, Straßen und Plätze, aber auch Fähren, Seenotrettungskreuzer und Gaststätten tragen seinen Namen oder den seiner Figuren, insbesondere aus dem Schimmelreiter. 8 Durch seine Werke hindurch bleibt er dem Realismus treu, auch wenn Texte wie „Der Schimmelreiter” es vermuten lassen könnten, er wandle auf dem Grat zur Phantastik.
Bibliografische Daten zur Novelle „Der Schimmelreiter“
„Der Schimmelreiter” ist die letzte vollendete, der 47 Novellen im Leben Theodor Storms. 9 Sie markiert den Abschluss und Höhepunkt seines dichterischen Werkes. Der Stoff der Geschichte stammt nicht ausschließlich von Storm, sondern basiert teilweise auf anderen Erzählungen, Fakten und Orten. Zwar beschrieb der Autor den Handlungsort der Novelle mit „irgendwo in der nordfriesischen Marsch”, doch aus Anfragen Storms nach Kartenmaterial in Zusammenhang mit Sturmfluten und Küstenverläufen, lässt sich ableiten, dass er eine Gegend zwischen Husum und Bredstedt im Kopf hatte.10 Die heutige Küstenlinie hat durch die Eindeichung des Cecilienkoogs zu Beginn des 20. Jdh. nichts mehr mit der aus Storms Lebzeiten gemeinsam. Lediglich Eckpunkte, wie die nun zum Festland gehörende Hallig Jeversand, welche in der Novelle eine wichtige Rolle spielt, lassen den Ort vermuten. Die ursprüngliche Geschichte lässt sich zu einer Erzählung an der Weichsel zurückverfolgen, welche tatsächlich in den, in der Einleitung Des „Schimmelreiters“ erwähnten „Pappes Lesefrüchten” zu finden war. Die Geschichte „Der gespenstige Reiter” weist starke Ähnlichkeiten mit dem „Schimmelreiter” auf.11 Storm schrieb etwa drei Jahre an der Novelle, immer wieder durch seine fortschreitende Erkrankung an Magenkrebs und der Arbeit an anderen Novellen unterbrochen. „Dem Willen, endlich mit der Novelle zu beginnen, stand immer wieder das schlechte seelische und körperliche Befinden des Autors entgegen”12 Im Februar 1888 stellt Storm die Novelle fertig, im April wird sie publiziert und im Juli verstirbt der Autor. Seit dieser Zeit ist die Novelle eng mit der Region Nordfriesland verbunden. Storm erfand quasi den Nordfriesennamen „Hauke” erst und andere Teile seines Werkes vermischen sich mit der Realität, dass „Dichtung und Wirklichkeit […] in der Novelle eine derart nahtlose Symbiose eingegangen [sind], daß manche Dinge heute oftmals als historische Fakten gesehen werden, die tatsächlich aber nur der dichterischen Phantasie entsprungen sind.”13
Wichtig zu erwähnen sind einige Anpassungen, welche vom Ur-Manuskript zur ersten Veröffentlichung und zweiten Veröffentlichung vom Autor gemacht wurden. Auf Anraten seiner Freunde und Kritiker fügte er den Anhang zur „Landesdeichsprache” hinzu, um nicht geläufige Begriffe zu klären.14 Allerdings fiel in der ersten Veröffentlichung eine der letzten Szenen weg, da sie „zu sehr aus der Stimmung fiel”.15 Die Szene befindet sich im Anhang und ist ein ergänzender Teil der Analyse zur Vergegenwärtigung des Aberglaubens.
Hauptteil
Grundlegende Begriffe
Schauerliteratur
Es wird eine Definition der Novelle als Schauergeschichte gewählt, da sie treffend klassifiziert, welche Elemente als schauerlich gelten. Siehe dazu auch das Verbarium des Schauer(roman)s nach Mario Grizelj im Anhang16. Selbstredend weisen Texte der Schauerliteratur ein hohes Maß an schauerhaften Elementen auf. Der Anspruch an diese ist, „nicht nur auf der textontologischen Ebene [zu] zirkulieren und damit nur die Figuren betreffen, sondern aus dem textuellen Rahmen auf den Leser überspringen und eine besonders intensive Form von Wirkungsästhetik ausbilden”17, sprich der Leser und die Figuren sollen den erzeugten Schauer gleichermaßen erleben. Wichtig ist, dass den eingebauten, schaurigen Elementen eine Intensität zukommt, die sich vom normalen Erzählen abhebt. Die bloße Erwähnung von Schauerelementen reicht „allein nicht aus, sie müssen in ihrem Auftreten auch eine spektakuläre Exorbitanz, Exessivität, […] nach sich ziehen und dabei etablierte Ordnungen, sei es psychischer, [oder] sozialer Art […] gefährden ”18 Somit werden die Elemente nicht einfach nur als beschreibend gesehen, sondern sind immer Teil der Problemkonstellation. Im Schauerroman kann eine große Bandbreite an Formen und Wesen bedient werden. „Teufel, Geister [und] Vampire dienen als Konglomerate ausufernder Alterität, die imaginär, fiktional poetologisch-darstellungs- und medientechnisch sowohl ausgereizt als auch domestiziert wird.“19 Durch das Aufkommen von Schauerliteratur zu Beginn des 19. Jahrhunderts, war es mit dieser Textsorte möglich, auf einer schaurigen Ebene gesellschaftliche Konventionen und Tabus zu hinterfragen. Gerade Schauerliteratur ist ein wichtiger Teil des Selbstbeschreibungsprozesses von Gesellschaft im 19. Jdh. gewesen.20 Durch die Abstraktion der Problemstellungen war es möglich diese auf einer anderen Ebene zu verhandeln, ohne das Problem zu beschädigen.
Aberglauben
Der Begriff des Aberglaubens soll im Folgenden definiert und vom Christentum abgegrenzt werden. Aberglauben ist im Wesentlichen selbst geschichtslos und nicht an Völker oder Religionen, zu welchen er eventuell im Kontrast steht gebunden.21 Zwar steht in Mitteleuropa häufig die katholische Kirche im Spannungsverhältnis zu abergläubischen Praktiken, dies liegt jedoch an der Auslegung der Kirche, was als richtige Glaubenspraxis zu gelten hat.22 Abergläubische Vorstellungen sind so alt wie die Religionspraxis der Menschheit selbst und haben sich jeweils in die vorherrschende Religion eingebettet und auch überdauert. Während des Übergangs vom römischen und hellenistischen Glauben zum Christentum hielten sich antike abergläubische Vorstellungen in der gleichen Region, während die Religion wechselte. Teilweise trug die Ausbreitung des Christentums antike Aberglaubensvorstellungen aus dem Mittelmeerraum in Richtung Nordeuropa. Gleichzeitig begann die katholische Kirche im 4. Jahrhundert mit der Bekämpfung des Aberglaubens, was die Vorsilbe „aber” als Substantivierung einer adversiven Konjunktion erklärt, um zu unterscheiden welche Praktiken zum Gegenglauben gehören. Zu Lebzeiten Karls des Großen wird noch von „Indiculus superstitionum” gesprochen, was so viel wie „Überglaube” bedeutet und den Glauben an Paranormales als Übernatürliches meint. Abergläubische Vorstellungen und Praktiken verändern sich auffallend wenig im Laufe der Zeit.23 Da sie mündlich tradiert werden und von keiner Institution, Niederschrift oder einer Autorität verbreitet werden, sondern sich in der Bevölkerung über die an sie gebundenen Situationen halten, sind sie von Veränderungen in der vorherrschenden Religion unbeschadet. Beispiele für solche Situationen sind Praktiken zu Beerdigungen oder zum Dreikönigsfeiertag. In unterschiedlichen Regionen Europas sind abergläubische Vorstellungen unterschiedlich stark ausgeprägt und vertreten. „Im Aberglauben äußert sich, verstärkt in Regionen der unmittelbaren Bedrohung durch die Natur, ein tiefes Sicherheitsbedürfnis des Menschen, […] die drohenden Gefährdungen zu bannen. Aus diesem Grund [tritt] der Aberglaube nur in ganz konkreten Situationen [auf]“24
Die Anfänge des Wortes “Aberglauben” lassen sich ins Niederdeutsche („Overgeloof”) und Dänische („Overtro”) zurückverfolgen. Im 15./16. Jdh wurden in Deutschland in unterschiedlichen Regionen die Begriffe „abergloube”, „biglove” und „bijegeloof” verwendet.25 Der Begriff des Aberglaubens als verwerfliche Praxis entstand erst durch Auslegung der Kirche. Der volkstümlichen Ausübung entspricht es eher, dass es eine konfliktfreie Ergänzung zur vorherrschenden Glaubensrichtung darstellt. Dennoch entsteht durch die Verwendung der Vorsilbe „aber” im Sinne von: „wider, abweichend, entgegen” eine Konnotation, welche ganz klar negativ und vor allem strafbar sein kann. Die christliche Kirche nutzte diese Konnotation, um diesen verurteilen zu können. „Die Bezeichnung ‚Aberglaube‘ beinhaltet also eine Kritik, die sich über jede als solche bezeichnete Erscheinung erhebt, entweder aus der Position einer religiösen Überzeugung heraus oder aus der einer aufgeklärt-wissenschaftlichen Haltung.”26
Aberglauben tritt oft an Krisenpunkten im menschlichen Leben zutage. Beispiele sind selbstredend Geburt und Tod, aber auch Hochzeit, Krankheit und das „Leben nach dem Tod”. Es gibt Vorgaben über die Zeit eines menschlichen Lebens hinaus, wie etwa Verbote für Schwangere oder Verstorbene. Der Glaube an Wiedergänger und „wandelnde Tote” ist Teil dieser Vorstellungen. Darüber hinaus bedient sich der Aberglauben einem breiten Repertoire an dämonischen Gestalten wie etwa Hexen, Magier, Elementargeister, etc.27 Viele Praktiken des Aberglaubens dienen zum Schutz vor einem meist vage formulierten Unglück, wobei viele Situationen im Nachhinein ihre Deutung als ausschlaggebend erhalten. Um sich vor Unglück zu schützen, gibt es unterschiedliche Methoden. Es gibt Symbole und Schriftzeichen, die solch ein Unglück abzuwehren gedacht sind, wie der Drudenfuß oder das Pentagramm.28 In Teilen der evangelischen Kirche wird auch das C.M.B Zeichen zu Dreikönigstag als magische Praxis angesehen und entsprechend herabgewürdigt.29Differenzen zum Christentum weist der Aberglaube in seinem Bestreben zur Erforschung der Zukunft auf. Wo im Christentum die Allmacht Gottes den Ausgang der weltlichen Geschicke bestimmt, so ist im Aberglauben der Einzelne für sein Schicksal verantwortlich und auch verantwortlich zu machen. Praktiken von Wahrsager*innen, Kartenleger*innen sind menschliche Anzeichen dafür. Doch ebenso werden Naturereignisse, die lange Zeit keine naturwissenschaftliche Entsprechung aufwiesen als Zeichen für drohendes (Un-)Glück gewertet.
Der Vollzug abergläubischer Praktiken läuft meist zu bestimmten, ähnlichen Situationen ab. Grundsätzlich scheint oft ein Analogiegedanke vorzuherrschen, wie etwa beim Tanzen hoch zu springen für hochwachsendes Getreide oder Krankheiten nur bei abnehmendem Mond besprechen. Es besteht die Vorstellung von simila similibus, dass zwischen ähnlichen Dingen eine unsichtbare Verbindung bestehe, die beeinflusst werden kann. Gleichzeitig werden (Körper-)teile eines Menschen zu magischen Gegenständen erhoben und qua pars pro toto (ein Teil für alles) dazu verwendet um Macht über eine Person zu gewinnen und auszuüben. Teile des menschlichen Organismus, wie etwa Schädel, Blut oder Speichel gelten dabei als kraftbeladene Bestandteile.30
Obwohl die Bezeichnung Aberglaube es nahelegt, dass diese Praktiken im Christentum nicht geduldet werden und diese getrennt voneinander stehen ist das Gegenteil der Fall. Während der Ausbreitung des Christentums im ersten Jahrtausend kam es immer wieder dazu, dass wesentlich ältere Aberglaubensvorstellungen in die Religion mit eingeflossen sind. 31Als Beispiel wäre hier das Feiern von Weihnachten als ein ehemaliger keltisch-germanisch-slawischer Feiertag zur Wintersonnenwende zu nennen. Dies ist jedoch nicht Bestandteil dieser Arbeit und wurde bereits an anderer Stelle erforscht. Wichtig ist jedoch, das daher diese Vorstellungen und Praktiken unter dem Begriff Beiglaube („biglove”, „buigläuwe”) eigentlich eine wertneutrale Ergänzung zur Religion darstellten und sich nicht im Kontrast zu dieser befanden.32 Die Kirche betrachtete den Aberglauben jedoch als schädlich, da folgende Unterscheidung nicht ihren Lehren passte: Aberglauben betrifft in der Regel einen einzelnen Menschen und dort den Vorteil für diesen selbst, wohingegen die Kirche Nächstenliebe und Selbstlosigkeit predigte.33
Aberglauben in Nordfriesland
Nordfriesland erfuhr nicht nur durch seine Lage eine spätere Christianisierung, auch die Tatsache, dass die Menschen dort überdurchschnittlich heftig den Gewalten und Launen der Natur ausgesetzt, sind trug dazu bei, dass sich vermehrt abergläubische Elemente etablierten. Ziel war oft die Vorhersage von Wetterveränderungen oder Ernteverläufen, manchmal auch mit der Absicht der Einflussnahme.34 Bis lange nach der Christianisierung hielten sich noch Glaubenselemente, welche vom slawischen oder germanischen Glauben beeinflusst waren. Noch heute finden sich Überreste, die auf den slawischen Gott Prove hinweisen.35 In Norddeutschland entwickelten sich zudem auch eigene Begriffe für weiter verbreitete abergläubische Vorstellungen und Praktiken, etwa der Begriff „Spökenkieker” für „zweites Gesicht”.36 Bis ins 20. Jahrhundert findet man Brauchtümer, welche einen älteren Ursprung haben und dem Aberglauben zuzuordnen sind. Biikenbrennen und Maifeuer37 sind nur zwei Beispiele für eine Vielzahl solcher Praktiken.
Wie werden schauerliche und abergläubische Elemente im Text vergegenwärtigt?
Die Vergegenwärtigung abergläubischer und schauerlicher Elemente findet in der Novelle stets im Kontext der Handlung statt. Die abergläubischen Vorstellungen der handelnden Figuren sind stets so gewählt, dass sie zur Situation passen. Aufgrund des Einsatzes als dramatisches Mittel sind sie teilweise auch als schauerliche Elemente zu bezeichnen. Zuerst soll auf die Vergegenwärtigung des Aberglaubens eingegangen werden, um im zweiten Schritt den Zusammenhang zur Schauerliteratur herzustellen. Im Text gibt es einige sehr markante, jedoch viele kleinere Situationen, an welchen deutlich wird, dass die Figuren nach Denkmustern des Aberglaubens agieren. Oftmals sind diese für den unaufmerksamen Leser schwer vom Rest unterscheidbar und es wird deutlich, warum Weinreich in seiner Analyse von einer „nahtlosen Symbiose” sprach.38 Sei es die Erwähnung des Teufels in unterschiedlichen Kontexten, mal als “Seeteufel”,39 dann als „der Feind Gottes”40, oder als Bezeichnung, wie Hauke im Zusammenhang mit seinem Schimmel bezeichnet wird41 („Den Schimmel reit’ der Teufel – Und ich!”). Des Weiteren taucht das Wort „Unheil” an vielen Stellen42 als Synonym für das Wirken einer nicht kontrollierbaren Macht auf. Von rationalem menschlichen Versagen ist oft nicht die Rede. Die Figur des Schimmelreiters ist insbesondere auf der zweiten Erzählebene, im Wirtshaus, nicht dem Aberglauben zuzuordnen, sondern gilt als schauriges Element. Storm schreibt auch hier ganz als Autor des Realismus, für den der beschriebene Aberglauben in allen Belangen zur beschrieben Begebenheit passen muss. Sein Wissen über die nordfriesischen Vorstellungen war immens. Stets beschreibt er die richtige Vorstellung an der richtigen Situation. Beispielsweise verknüpft er in der Szene, in welcher Hauke Haien den Angorakater von Trien’ Jans totschlägt, automatisch mit der abergläubischen Vorstellung des Fluchs durch Katzentod.43 In einer für Storm typischen Vorgehensweise des „Spiegelns der Wirklichkeit”44 stirbt hier nicht die klassische schwarze Katze, sondern ein weißer Angorakater. Die Worte von Trien’ Jans: „Du sollst verflucht sein![…]”45, zeigen die Verbundenheit der Vorstellung Katzentod=Fluch im Zusammenhang mit dem Ärger und der Traurigkeit der alten Frau. Als Ole Peters Hauke Haien später als einen „verfluchte[n] Schreiberknecht”46 bezeichnet wird dieses Mittel der Vorausdeutung noch einmal aufgegriffen. Durch den gesamten Text hindurch knüpfen diese Aberglaubenselemente immer wieder Situationen zusammen und dienen gleichzeitig als Vorausdeutung, aber auch als intensivierendes Mittel für die gerade passierende Handlung. Storm spielt hier bewusst mit der Rolle des Aberglaubens als wertneutrale Ergänzung zum Christentum, ebenso wie der Betrachtung als Gegenglaube. Letzteres wird Hauke Haien von den anderen Bewohnern der Marsch vorgeworfen. Äußerungen wie „Er habe sein eigen Christentum zurechtgelegt”47 und „Er war ein Gottesleugner […]”48 zeigen dies deutlich.
Literarische Darstellung bei Figuren und Erzählszenen
Die Darstellung der abergläubischen Elemente sowie der Einsatz von schaurigen Elementen lassen sich anhand von Figuren und Erzählszenen nachvollziehen. Teilweise setzt Storm abergläubische Elemente für das Erzeugen einer schaurigen Stimmung ein, diese sind jedoch dann ganz klar dem Aberglauben zuzuordnen, da dies dem Anspruch Storms, eine realistische Schilderung zu bieten, gerecht wird.
Aberglaubenselemente im Schimmelreiter
Den Text prägen eine große Anzahl von Begebenheiten, welche die Verbundenheit der Figuren mit abergläubischen Vorstellungen verdeutlichen und sie auch zu Handlungen motivieren. Wie bereits erwähnt zählt die Figur des Schimmelreiters nicht zum Aberglauben und wird hier gesondert besprochen. Die erste Erwähnung findet der Aberglauben in der Warnung, welche der alte Schulmeister seiner Erzählung über Hauke Haien voranschickt, wobei er auch gleich ausdrückt, dass er nichts davon halte, es allerdings wiedergeben möchte.49Es folgt die Verfluchung Hauke Haiens durch Trien Jans, als dieser deren Angorakater aus Wut totschlägt. Die Handlung des Katzentötens wurde mit drohendem Unglück in Verbindung gebracht.50 Die Tatsache, dass Hauke später aus dem Fell eben jenes Katers einen Schemel macht, welcher in Trien Jans Kammer steht, während sie stirbt und Hauke großes Unglück prophezeit, greift diesen Fakt auf.51Kurz nach dem Eintritt in den Dienst des Deichgrafen wird Hauke Haien von Ole Peters als „verflucht” bezeichnet.52 Mit großer Häufigkeit wird der Teufel erwähnt. Die Figur des Teufels entspricht dabei der christlich-mythologischen Figur des Satans als Betrüger, Verleumder oder Abtrüniger.53 Beim Boßel-Wettbewerb gegen das Kirchdorf sagt Ole Peters „Werft nur wie die Teufel”54. Ebenso werden Redewendungen wie „Wo zum Teufel [..]”55, oder „Der Teufel möchte die Geschichte holen”56 gebraucht. Hauke Haien bezeichnet das destruktive Verhalten der Deichbauer als „Teufelsunfug”57. Die Erwähnung des Teufels spielt auf die entgegenstellenden Aspekte des Aberglaubens an. An einer Stelle wird dies in dem Satz Hauke suche „den Feind Gottes”58 deutlich zum Ausdruck gebracht. Gleichzeitig bekräftigt die Erwähnung des Teufels die Annahme der Person, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugehe. Häufig wird der Schimmel, welchen Hauke Haien erwirbt, mit dem Teufel in Verbindung gebracht. Man nennt ihn das „Teufelspferd”59 des Deichgrafen oder hat Angst, dass „der Schimmel nur nichts von seinem alten Herren mitbringt.”60 Hauke Haien sagt selbst auf den Vorwurf „Den Schimmel reit’ der Teufel” nur ein überlegenes “- und ich”61. Während sich die Isolation Hauke Haiens fortsetzt und durch verschiedene Dorfbewohner Hetze gegen ihn gemacht wird, werden ihm unterschiedliche Dinge nachgesagt um ihn als schädlich und gefährlich darzustellen, etwa „Er war ein Gottesleugner; die Sache mit dem Teufelspferde mochte am Ende richtig sein”62 oder auch „er habe sich sein eigen Christentum zurechtgelegt”.63 Obwohl in Nordfriesland Glauben und Aberglauben eine friedliche Koexistenz führten, so wurde der Teufelspakt, wie etwa Haukes Kauf des Schimmels als Gefahr für die Gesellschaft gewertet. Um Hauke angreifbar zu machen, musste seine Autorität als Deichgraf geschwächt werden und die Vorstellungen des Aberglaubens, projiziert auf seine Handlungen halfen dabei. Seine Weigerung, diese Vorstellung in sein Deichprojekt mit einfließen zu lassen („An unserem Werke soll kein Frevel sein”)64 verstärken dies noch. Er beschimpft die Vorstellung seiner Deicharbeiter als „Heidenlehren”65 und geht gegen deren Praxis vor. Ihre Angst vor seiner Jähzornigkeit wird ebenfalls mit „abergläubische[r] Furcht” beschrieben.66 Beispielsweise beim Schließen des Deiches und der Diskussion, ob denn „was Lebiges”67 hineingehöre oder nicht und Hauke den dafür auserwählten Hund vor dem sicheren Tod rettet. Die Vorstellung von etwas Paranormalem, Beeinflussbaren wird an unterschiedlichen Stellen des Textes mit „Heidenglauben”, „Altemweiberglauben”, und ähnlichem bezeichnet, beschreibt aber immer Handlungen, welche unvereinbar mit dem Christentum und naturwissenschaftlich überholt sind. Als das Pferdegerippe auf Jeversand gesichtet wird und der Satz „An manchen Nächten sollten die Knochen sich erheben”68 fällt, lässt das zwar nicht auf einen konkreten Aberglauben schließen, jedoch auf die Tatsache, dass unerklärliche Umstände oft unter Rückgriff auf Paranormales und Abergläubisches erklärt werden. Überhaupt werden häufig Figuren der christlichen Mythologie, wie der Teufel oder ein Erzengel69 hinzugezogen. Allerdings wird sich auch eines anderen Vokabulars der Kirche bedient. Passend zur Gestaltung der Figur nennt Hauke kurz nach ihrem Tod Trien Jans eine „alte Hexe”70 und Storm spielt damit geschickt auf die Hexenverfolgung in Schleswig-Holstein an, der nicht weniger als 450 Frauen zum Opfer fielen.71 In der gleichen Szene prophezeit Trien Jans ein baldiges Unglück und sofort auch die letzten Worte, mit denen sich Hauke später das Leben nehmen wird. Dies ist ein Indiz für das „zweite Gesicht” oder „Spökenkiekers” im Norddeutschen, welches ein Mittel zur Vorhersage der Zukunft darstellte. Es wurde geglaubt, dass Menschen in Extremsituationen wie etwa Niederkunft oder Tod, eine empfindlichere Gabe zur Voraussage der Zukunft haben als sonst. Indem Trien Jans eine, sich später bewahrheitende, Voraussage trifft, spielt Storm auf genau diesen Glaubenssatz an. Hauke sagt dort „Sind denn die Sterbenden Propheten?”.72Des Weiteren ist hervorzuheben, dass der einzige mit Sorte bezeichnete Baum die Esche vor dem Haus Hauke Haiens ist. Eschen gelten in der nordischen Mythologie als heilig, auch durch die Anspielung auf die Weltenesche Yggdrasil73 in der Edda. Die Esche im „Schimmelreiter” erfüllt Voraussetzungen ihrer Rolle im nordfriesischen Aberglauben. Dort gilt sie als Bannesche74 zur Abwehr von Unglück, allerdings nur, wenn sie rituell an einem Morgen gepflanzt wurde, ähnlich wie es Elkes Großvater am Tag seiner Hochzeit tut.75 Die Beschreibungen der Esche, gerade zur Zeit der Sturmflut ähneln denen, welche in der Edda zur Zeit des Weltenuntergangs Ragnarök gemacht werden.76 Storm schreibt „Die Esche, als ob sie auseinanderbrechen wollte”77 und Snorri: „Die Esche Yggdrasil, dumpf dröhnt der alte Baum”78
Nach Beendigung seiner Erzählung im Wirtshaus versucht der alte Schulmeister den von ihm erwähnten Aberglauben zu rechtfertigen, gesteht aber auch ein, dass es viele Menschen in der Region gibt, die dem Glauben schenkten.79Wichtig zu erwähnen ist noch die von Storm gestrichene Szene, die den Tod der Figur Hauke Haiens aus der Sicht einer anderen Figur schildert. Dort erzählt der als „abergläubisch” beschriebene Carsten den Überlebenden der Sturmflut vom Tod Hauke Haiens. Es wird beschrieben wie dieser in die Flut hineinreitet und dann von einem „schwarz[en] Unding” in der Luft gehalten wird. Carsten beendet seinen Bericht mit „wen der Teufel in den Krallen hat, dem kann nur Gott zu Hülfe kommen”, was noch einmal die Verbindung von Aberglauben und christlicher Mythologie unterstreicht. Die Szene endet mit der Erklärung des alten Schulmeisters im Wirtshaus und dessen Versuch für alle beschrieben schauerlichen und abergläubischen Phänomene eine rationale Erklärung zu finden. Mit der Beschreibung einer auf dem Sophienhof lebenden Person spielt Storm eventuell auf eine echte Person Boy „Spuk” Johannson an, welche sich als Seher zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Nordfriesland einen Namen gemacht hatte und in Niebüll gelebt hat. 80Seine Lebzeiten und die Storms überschnitten sich und seine Vorausdeutungen mögen Storm mit inspiriert haben. Ebenso wurden Geistersichtungen in Nordfriesland auch von anderen Personen, wie etwa Pastor Goldschmid beschrieben.81 Die letzte Szene mag Storm wohl gestrichen haben, da sie deutlicher als andere Textstellen die Rolle des Aberglaubens als Schauerelement darstellt und dem Leser eine Interpretation, wie Hauke Haien zur Figur des Schimmelreiters wurde vorschlägt. Weil sie allerdings auf die abergläubischen Vorstellungen Nordfrieslands anspielt, soll sie hier nicht vernachlässigt werden.
Schauerelemente im „Schimmelreiter“
Der Schimmelreiter ist durch die Vermischung von Realismus, Aberglauben und Schauerelementen durchaus als Schauerliteratur einzustufen. Gründe dafür sind die Gestaltung des auf dem Schimmel reitenden Wesens, als eine Figur, die an Darstellungen des Todes oder Sensenmannes erinnert. Die Tatsache, dass der Schimmelreiter auf der zweiten Erzählebene im Wirtshaus vermehrt gesichtet wird, steigert zusätzlich die Spannung in der Handlung. Doch auch andere Elemente sind dem Schauer zuzuordnen, schwarze Krähen82 oder ein Abbild des Todes83 sind nicht bloße Ausschmückungen. Die Nebelgeister, welche zu Beginn von Hauke gesichtet werden und von ihm als Naturphänomene erklärt werden dienen in ihrer ausschweifenden Umschreibung dem Aufbauen von schauriger Stimmung. Als Hauke Haiens Vater stirbt, erklärt er dies nicht mit Altersschwäche, sondern sagt, der „dunkle Engel” des Todes sei bei ihm. 84Auch wenn es diese Figur im christlichen Glauben nicht wirklich gibt, ist sie nicht dem Aberglauben, sondern dem Schauer zuzuordnen. Die Darstellungen des Pferdegerippes auf Jeversand sind ebenfalls als schaurige Elemente zu betrachten. Das Verhalten der beiden Knechte, als sie das Trugbild des Pferdes erforschen erinnert an die Weitergabe mündlicher Aberglaubensvorstellungen („an manchen Nächten sollen die Knochen sich erheben”)85, ist jedoch ein schauriges Element. Durch die Vermischung von Schauer, Aberglaube und Realismus gelingt Storm auch die Vermischung der Weitergabe. Die Vorstellung der sich erhebenden Knochengerippe wird als ebenso plausibel betrachtet wie alle anderen abergläubischen Elemente und entsprechend weitergegeben. Aus diesem Grund wirkt der Schimmelreiter, obwohl er eine realistische Erzählung ist, welche auf Elemente des Aberglaubens zurückgreift, derart schauerlich.
Wo ist das Wissen gespeichert?
Ebenso wie die Vorstellungen des Aberglaubens nicht an eine Niederschrift gebunden sind, so ist auch deren Weitergabe im Schimmelreiter stets von Figuren ausgehend. Zu Beginn der Binnenerzählung gibt der alte Schulmeister an, seine Geschichte werde viel Aberglauben enthalten, nichtsdestotrotz fungiert er als Erinnerungsmedium nicht nur für die Figur des Hauke Haiens, sondern auch für alle beschriebenen abergläubischen Verhaltensweisen. Genauso wie später Trien Jans, als sie der kleinen Wienke Geschichten von mystischen Wesen wie etwa „Wasserweibern” erzählt. Die alte Frau gibt ein ihr mündlich tradiertes Wissen an die jüngste Generation weiter. In der Situation der ersten Begegnung mit den Nebelgeistern und der Beschreibung der angespülten Leichen als Seeteufel erinnert sich Hauke Haien an eine Erzählung eines norwegischen Kapitäns, also ebenso an eine mündliche Weitergabe. Bevor Hauke die Deicharbeiter davon abhalten kann im letzten Stück des Deiches etwas Lebendiges zu vergraben, hört er zuerst von dieser Praxis von seiner Frau Elke, die wiederum die Geschichte mit dem Zigeunerkind von jemand anderem gehört hat. Storm folgt mit dieser Vorgehensweise dem Haltbarkeitsmerkmal des Aberglaubens. Dies liegt zum großen Teil an der mündlichen Weitergabe, die speziell an gewisse Situationen geknüpft ist. Dadurch bildet sich ein kollektives Gedächtnis, jedoch nie eine Verschriftlichung oder eine andere dogmatische Verbreitung. Storm beschreibt es im Text genauso. Je nach Situation erklärt eine Figur, welches Verhalten nun angebracht sei und besteht auch oft auf die Durchführung.
Die Rolle des Aberglaubens in der Novelle
Theodor Storm verwendet das Element des Aberglaubens in der Novelle „Der Schimmelreiter” in unterschiedlichen Funktionen. Es dient seinem Anspruch der realistischen Schilderung und zur Verstärkung der Isolation der Figur Hauke Haiens. Aufgrund der Tatsache, dass Storm seine Novellen als realistische Schilderungen konzipiert und der Aberglaube gerade in Nordfriesland Teil des kollektiven Gedächtnisses ist, darf er nicht fehlen. Salopp gesagt gehört er einfach dazu. Es ist jedoch die Art und Weise, wie Storm mit dem Pool der abergläubischen Vorstellungen verfährt, was es von einer nüchternen Schilderung gesellschaftlichen Lebens unterscheidet. Storm konstruierte durch Glauben, Aberglauben, Schauer und Realismus polarisierend gegenüberliegende Positionen. Natürlich stehen sich die Positionen des Aberglaubens und des christlichen Glaubens hier gegenüber. Wie oben beschrieben stellte der Aberglaube als „biglouve” eine neutrale Ergänzung zur Religion dar und wurde erst durch die Auslegung der katholischen Kirche zur Gegenposition erhoben. Durch Äußerungen wie „sein eigen Christentum zurechtgelegt” greift Storm diese Polarität auf. Schauer und Realismus bilden ein ähnliches Paar. Schauerelemente sind stets Mischungen aus phantastischem und paranormalen. Der Einsatz von Schauerelementen und auch die Beschreibung, als würde es sich um reale Dinge handeln verstärkt diesen Gegensatz noch. Das Trugbild des Pferdes auf Jeversand und die nachfolgende Erklärung, warum der Junge mit der Peitsche schlug ist ein Beispiel hierfür86. Doch auch der Aberglauben und Schauer stehen in einer Wechselbeziehung, da dem Leser nicht sofort auffällt, welches scheinbar schaurige Element eigentlich Teil des Aberglaubens ist und umgekehrt. Diese bereits erwähnte Vermischung der Elemente sorgt für einen Spannungsaufbau, welcher die Handlung der Binnenerzählung übergreift und durch die Sichtungen des Schimmelreiters auf der zweiten Erzählebene verstärkt wird. Dem Aberglauben kommt hier ganz klar eine katalysierende Rolle zu, welche dazu eingesetzt wird das Verhalten der Marschleute zu erklären, aber auch Vorausdeutungen zu machen. Eine weitere Rolle spielt der Aberglauben bei der Isolation Hauke Haiens von den übrigen Marschleuten. Andichtungen und Handlungen, welche ihm nachgesagt werden, richten sich oft nach abergläubischen Motiven; etwa den Schimmel als „Teufelspferd”87 zu bezeichnen, oder auch die Angst Hauke suche „den Feind Gottes”88, was das Unglück aller beschwöre. Diese Doppelrolle macht den Schimmelreiter interessant und erhebt den Aberglauben zu einem tragenden Element im Text, anstatt ihn einfach nur Teil der Schilderung sein zu lassen.
Doch Storm verstand sich auch der Aufklärung zugehörig und so ist es kein Zufall, dass der alte Schulmeister, welcher die Binnengeschichte erzählt, so bezeichnet wird. „Er dient als Gegengewicht zur wundergläubigen Wirtshausgesellschaft”89 und auch als Stimme der Vernunft während der Sichtungen des Schimmelreiters auf der zweiten Erzählebene. Durch die Darstellung des Schulmeisters als überheblich und besserwisserisch verleiht Storm seiner Vorstellung von weltlichen Geschicken Ausdruck und lässt die Ereignisse des Schimmelreiters ganz klar als fiktiv und schauerlich gelten. Für Storm sollte eine Novelle immer auch zur Wertevermittlung taugen und so bildet „Der Schimmelreiter” keine Ausnahme. Hier wird das voranschreiten der Aufklärung durch die Ansichten der Figuren in unterschiedlichen Zeiten als Ausdruck genutzt.
Schluss
Zusammenfassung der gewonnenen Erkenntnisse
„Der Schimmelreiter” enthält eine große Anzahl an Elementen, welche dem Aberglauben zuzuordnen sind und teilweise als Elemente des Schauers fungieren. Er beschreibt dieser in seiner typischen realistischen Weise und lässt sie dadurch keinesfalls phantastisch, sondern real wirken. Wie bereits oben dargelegt, dienen die Elemente des Aberglaubens einerseits der Veranschaulichung des gesellschaftlichen Lebens, der Erzeugung von Spannung durch ihre Schauerlichkeit, der Motivation der Marschleute und zuletzt der Vorausdeutung innerhalb der Handlung. „Der Schimmelreiter” baut nicht auf den Vorstellungen des Aberglaubens auf, noch ist es eine einfach als schauerlich konzipierte Geschichte. Die Novelle wirkt gerade durch die Symbiose der Elemente.
Prüfung der These
Der Aberglauben wird in realistische Kontexte eingebunden und ist durch seinen Einsatz als Isolationselement von Hauke Haien ein tragendes Element der Handlung. Er spielt eine wichtige, konfliktbehaftete Rolle. Da abergläubische Vorstellungen Teil des Lebens der nordfriesischen Marschleute waren, konnte Storm den Aberglauben in seinen Novellen nicht außer Acht lassen. Im „Schimmelreiter” hat er diesen bewusst aufgegriffen, sodass eine völlig neue Form von Schauerlichkeit entstand, die mehr einer realistischen Schilderung, als der gespenstischen Schauerliteratur zuzuordnen ist.
Der Aberglauben spielt also in der Novelle „Der Schimmelreiter” eine tragende Rolle und ist als Mittel der Motivation, Erklärung und Vorausdeutung nicht aus der Handlung wegzudenken. Gleichzeitig macht dies die Novelle auch so ortsverbunden und wird heute noch als die nordfriesische Novelle schlechthin gesehen. Ohne das Zurückgreifen auf die ganz typischen und speziellen Vorstellungen, die gerade in Nordfriesland zu finden sind, wäre dies nicht der Fall.
Quellenverzeichnis
Primärliteratur
- Storm, Theodor, “Der Schimmelreiter”, Reclam, 2015
Sekundärliteratur
- Browne, Christine Geffers, “Theodor Storm: das Spannungsverhältnis zwischen Glauben und Aberglauben in seinen Novellen”, Lang, 2002, ABERGLAUBEN
- Detering, Heinrich, „Herkunftsorte: literarische Verwandlungen im Werk Storms, Hebbels, Groths, Thomas und Heinrich Manns“, Boyens, 2001, HERKUNFTSORTE
- Grizelj, Mario, „Der Schauer(roman). Diskurszusammenhänge – Funktionen – Formen“, Verlag Königshausen & Neumann GmbH, 2010, SCHAUER
- Harmening, Dieter, “Wörterbuch des Aberglaubens”, Reclam, 2009
- Rust, Jürgen, “Aberglaube und Hexenwahn in Schleswig-Holstein”, Cobra, 1983, ABERGLAUBE IN SH
- Sturluson, Snorri, “Die Edda”, Reclam 1997
- Weinreich, Gerd, „Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur – Theodor Storm – Der Schimmelreiter“, Diesterweg 1988, VERSTÄNDNIS
Online-Quellen
- Wikipedia-Artikel zu Theodor Storm: de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Storm [zuletzt aufgerufen am 05.03.2018, 7:19 Uhr]
Anhang
Der ursprüngliche Schluss der Novelle nach der Original-Handschrift:
Es soll nämlich, und ich darf das nicht vergessen, damals doch noch einer auf dem neuen Deich zurückgeblieben sein, während die Uebrigen südwärts nach der Stadt und von dort nach ihrem Kirchdorf auf der Geest zurückgeflohen waren, wo sie außer ihrem Deichgrafen nebst Weib und Kind die ganze Marsch beisammenfanden.
Der Zurückgebliebene aber sollte jener Carsten, der frühere Dienstjunge des Deichgragen gewesen sein, ein ebenso abergläubiger, als, wenn seine Neugierde ins Spiel kam, waghalsiger Geselle, und derzeit noch im Dienst des Ole Peters. Er wollte an der Binnenkante des Deiches dem letzten Ritte seines früheren Herrn gefolgt sein; und einen ganzen Sack voll hatte er bei seiner Rückkehr auszukramen. „Hu aber, Frau Vollina“, sagte er zu seiner Wirthin, und das Weib kreuzte schon in behaglichem Schauder die Hände über ihren Leib; „da begab sich etwas! Ich lag dicht hinter ihm am Deich; da stieß er dem Schimmel die Sporen in die Seiten und riß das Mail auf und schrie; verstehen konnt‘ ich’s nicht, der Lärm umher war gar zu grauslich! Aber es wird wohl sein dummes „Vorwärts!“ gewesen sein, womit er allezeit sein Thier zu treiben pflegte. Ja, vorwärts! Was meint ihr, Frau Volina!“
„Ja, was mein‘ ich?“ plapperte das Weib. „So sprich doch Carsten!“
„Da ist nicht gut zu sprechen, Frau!“ fuhr Carsten fort: „So arg ich meine Augen aufriß, ich sah itzt weder den Schimmel, noch ein ander Pferd, nur den Reiter sah ich, und es war noch als ritte er mit seinen Beinen in der Luft; aber ein schwarzes Unding war über ihm und hielt ihn in seinen Krallen. Dann begann ein fürchterliches Hülfsgeschrei, das lauter war, als Sturm und Wasser; aber Frau, wen der Teufel in den krallen hat, dem kann nur Gott zu Hülfe kommen!“
„Und dann? Und dann?“ rief Frau Volina. „Ja, Frau; dann sah ich weiter nichts; ich hörte nur die großen Wasser, die in unseren Koog hinabstürzten und lief – denn mir war plötzlich die Angst ins gemüt gefahren – auf dem Deich zur Stadt hinunter, um nur mein eigen bischen Leben aus dieser schreckbaren Einsamkeit zu rettern. Aber“ – und er dämpfte seine Stimme, und Frau Vollina neigte ihren runden Kopf zu seinen Lippen – „das Schrecklichste sah ich gestern Abend; ich war bei hellem Mondschein auf den Deich hinaus, bis gerad‘ vor Jeversand – das weiße Pferdsgerippe, das fort war, so lang der Schimmel in des Deichgrafs Stall gestanden – es liegt wieder dort! Geht nur hin und sehet selbst!“
Aber Frau Vollina stieß einen Schrei aus: „Herr Gott und Jesus, seid uns gnädig!“
„- Das“, sagte nach einer Weile der Schulmeister, „ist das Ende von Hauke Haiens Geschichte, wenn Sie sich dieselbe im Dorfe wollen erzählen lassen. Und so ist es immer weiter gegangen, und der arme Deichgraf, der tüchtigsten einer, die wir hier gehabt haben, ist allmählich zu einer Schreckgestalt erniedrigt worden: bei Hochfluthen müssen seine verstäubten Atome sich zu einem Scheinbild wiederum zusammenfinden; das muß auf seinem Schimmel über die Deiche galoppiren und, wenn Unheil kommen soll, sich in den alten Bruch hinabstürzen. Credat judaeus Apella! pflegten wir auf der Universität zu sagen.“
Meines eigenen Abentheuers gedenkend wollte ich für den Gespensterglauben einen bescheidenen Vorbehalt erbitten; aber mein Gastfreund fiel mir in die Rede: „Ja, ja, werther Herr“; sagte er, „Sie wollen einwenden, Sie haben ihn selbst gesehen! Was sie gesehen haben, weiß ich nicht: es könnte auch ein Leibhaftiger, das heißt, ein Mensch gewesen sein; dort draußen auf dem Sophienhof, der Besitzer hat einen Bruder bei sich, einen alten wunderlichen Junggesellen; die Leute halten ihn für einen Narren, er selbst treibt Astronomie und hält sich für einen großen Wetterkundigen. Der hat ein hager Angesicht und ein paar tiefliegende Augen und reitet am liebsten im fliegenden Sturm auf den Deichen hin und wieder; ob er in einen Schimmel, weiß ich nicht zu sagen; unmöglich ist das nicht. Aber – einerlei, mag reiten wer da will, nur den Deichgraf Hauke Haien laßt mir aus dem Spiel; der hat wie kaum ein Andrer seine Ruh‘ verdient!“
Das Verbarium des Schauer(roman)s nach Mario Grizelj90
Spekulation, Spektakel, Sensation, Verschärfung, Exzentrik, Exorbitanz, Exzess, Hypertrophie, Extravaganz, Ornament, Arabeske, Groteske, Unheimliches, Wunderbares, Übersinnliches, Phantastisches, Schreckliches, Grausamkeit, Gräule, Gewalt, Perversität, Abjekt, Extrem, Exotik, Geheimnis, Traum/a, Wahnsinn, Horror, Terror, Erhabenes, Hässliches, Obskures, Inkommensurabilität, Unsichtbares, Unerklärliches, Inkommunikables, Spuk … Grenzüberschreitung, Schwelle, (Um)Bruch, Kippe, Wandlung, Transformation, Enstellung, Transgression, Maskierung, Liminalität, Alterität, Gegenkultur, Un-/Gegenordnung, Irrealität, Irrationalität, Unmöglichkeit, Kontrafaktizität, Zwitter, Oxymoron, Ambivalenz, Aporie, Paarradoxie, Parasit, Krise, Regression … Beunruhigung, Schauer, Schrecken, Schock, Ekel, Angst, Furcht, Schmerz … Verbrechen, Verbot, Tabu, Verleugnung, Begehren, Sex, Vergewaltigung, Gefangensein, Strafe, Folter, Exklusion … Körper(teile), Krankheit, Wunde, Skelett, Totenkopf, Isolation, Trauer, Wahnsinn, Tod … Schloss, Ruine, Gruft, Kerker, Kirche, Kloster, Friedhof, Grab, Sarg, Wald, Schlucht, Abgrund, Höhle, Mond, Dunkelheit … Phantom, Gespenst, Vampir, Werwolf, Ghoul, Monster, Teufel, Sukkubus, Wiederauferstandene, künstlicher Mensch, Automat, Mönch, Jungfrau, Ritter, Räuber, Zauberin, ewiger Jude, Geheimbund, Chimäre, Zwitterwesen, Femme fatale …
Einzelnachweise
1 Browne, ABERGLAUBEN, S. 36
2 Browne, ABERGLAUBEN, S. 36
3 Weinrich, VERSTÄNDNIS, S. 5
4 Weinreich, VERSTÄNDNIS, S. 10
5 Wikipedia Artikel zu Theodor Storm
6 Weinreich, VERSTÄNDNIS, S. 5
7 Weinreich, VERSTÄNDNIS, S. 5
8 Wikipedia Artikel zu Theodor Storm
9 Browne, ABERGLAUBEN, S. 35
10 Weinreich, VERSTÄNDNIS, S. 25
11 Weinreich, VERSTÄNDNIS, S. 21
12 Weinreich, VERSTÄNDNIS, S.15
13 Weinreich, VERSTÄNDNIS, S. 20
14 Weinreich, VERSTÄNDNIS, S.18
15 Weinreich, VERSTÄNDNIS, S.19 (vlg Brief von Storm an Paetel)
16 Grizelj, Der Schauer(roman), S.43
17 Grizelj, Der Schauer(roman), S. 52
18 Grizelj, Der Schauer(roman), S. 52
19 Grizelj, Der Schauer(roman), S. 53
20 Grizelj, Der Schauer(roman), S. 51
21 Browne, ABERGLAUBEN S. 7
22 Browne, ABERGLAUBEN, S.8 f.
23 Browne, ABERGLAUBEN S.7
24 Browne, ABERGLAUBEN S. 13
25 Browne, ABERLGAUBEN, S. 8
26 Browne, ABERGLAUBEN, S. 8
27 Browne, ABERGLAUBEN S. 9 ff.
28 Browne, ABERGLAUBEN, S. 10
29 Browne, ABERGLAUBEN S. 9
30 Browne, ABERGLAUBEN, S. 11
31 Browne, ABERGLAUBEN, S. 8
32 Browne, ABERGLAUBEN, S. 13
33 Browne, ABERGLAUBEN, S. 13
34 Rust, ABERGLAUBE IN SH, S. 5
35 Rust, ABERGLAUBE IN SH, S.59
36 Rust, ABERGLAUBE IN SH, S. 29f.
37 Rust, ABERGLAUBE IN SH, S.40
38 Weinreich, VERSTÄNDNIS, S. 20
39 Storm, Der Schimmelreiter, S. 14
40 Storm, Der Schimmelreiter, S. 101
41 Storm, Der Schimmelreiter, S. 86
42 Storm, Der Schimmelreiter, S. 27
43 Storm, Der Schimmelreiter, S. 19
44 Vgl. Dertering, HERKUFTSORTE, S. 147 (Fußnote 35)
46 Storm, Der Schimmelreiter, S. 30
47 Storm, Der Schimmelreiter, S. 98
48 Storm, Der Schimmelreiter, S. 100
49 Storm, Der Schimmelreiter, S. 19
50 Storm, Der Schimmelreiter, S. 19
51 Storm, Der Schimmelreiter, S. 30
52 Storm, Der Schimmelreiter, S. 30
54 Storm, Der Schimmelreiter, S.37
55 Storm, Der Schimmelreiter, S.42
56 Storm, Der Schimmelreiter, S. 67
57 Storm, Der Schimmelreiter, S. 138
58 Storm, Der Schimmelreiter, S. 101
59 Storm, Der Schimmelreiter, S. 87
60 Storm, Der Schimmelreiter, S. 84
61 Storm, Der Schimmreiter, S. 86
62 Storm, Der Schimmelreiter, S. 100
63 Storm, Der Schimmelreiter, S. 98
64 Storm, Der Schimmelreiter, S. 105
65 Storm, Der Schimmelreiter, S. 107
66 Storm, Der Schimmelreiter, S. 106
67 Storm, Der Schimmelreiter S. 72, 106
68 Storm, Der Schimmelreiter, S. 77
69 Vlg. Storm, Der Schimmelreiter, S. 43
70 Storm, Der Schimmelreiter, S. 130
71 Rust, ABERGLAUBE IN SH, S. 80
72 Storm, Der Schimmelreiter, S. 130
73 Sturluson, Die Edda, S. 28
74 Rust, ABERGLAUBE IN SH, S.17f.
75 Storm, Der Schimmelreiter, S. 24
76 Vlg. Sturloson, Die Edda, 72ff.
77 Storm, Der Schimmelreiter, S. 134
78 Vgl. Storm, Der Schimmelreiter, S. 145
79 Vgl. Storm, Der Schimmelreiter, S. 145
80 Rust, ABERGLAUBEN IN SH, S. 30
81 Rust, ABERGLAUBEN IN SH, S. 32
82 Vlg Storm, Der Schimmelreiter, S. 44
83 Vlg. Storm, Der Schimmelreiter, S. 59
84 Storm, Der Schimmelreiter, S. 52
85 Storm, Der Schimmelreiter, S. 77
87 Vgl. Storm, Der Schimmelreiter, S.87
88 Vgl Storm, Der Schimmelreiter, S. 101
89 Weinrich, VERSTÄNDNIS, S. 64
90 Schauer, S. 43